Ein "Vater der jüdischen Reformbewegung"

Zum 200. Geburtstag von Rabbiner
Dr. Salomon Formstecher


Er gilt als einer der "Gründungsväter der Reformbewegung" im Judentum: Rabbiner Dr. Salomon Formstecher. Aus Anlass des 200. Geburtstags von Rabbiner Formstecher würdigt die Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft Offenbach e.V. den Gelehrten, dessen Wirken in die jüdische Geistesgeschichte eingegangen ist und der international Anerkennung erlangt hat. Im August wird unsere Gesellschaft zudem zu einer Gedenkveranstaltung in den Dr. Max Dienemann-Saal des "Capitol Theaters" Offenbach einladen. Die Veranstaltung bildet den Auftakt zu einer Vortragsreihe unter dem Titel "Deutsches Judentum - Leistungen, Grenzen, Vermächtnis".

Geboren wurde Salomon Formstecher am 26. Juli 1808 in Offenbach als Sohn von Moses und Schönchen Formstecher. Der Vater - als Formschneider ein auf die Herstellung von Druckstöcken spezialisierter Kunsthandwerker - stammte aus Gehaus bei Vacha/Rhön und war seit 1790 in Offenbach ansässig. Früh schon fand Salomon Formstecher, geprägt durch den Vater, Interesse am Malen, Modellieren und Schnitzen. Mit sieben Jahren begann der Vater den Jungen in Hebräisch und dem Talmud zu unterweisen, später übernahm Rabbiner Metz den Unterricht. Auch besuchte Salomon Formstecher die Lateinschule. Sein Wunsch, ein Handwerk zu lernen, scheiterte jedoch, da sich kein Meister fand, der einen Juden als Lehrling aufgenommen hätte. Der Vater entschied daher, dass sich Salomon auf das Lehramt vorbereiten und studieren solle. Das Interesse für Handwerk und Technik aber sollte Salomon Formstecher nicht verlieren. So erhielt er 1856 das Patent für ein von ihm erfundenes Streichklavier.

Die Bedeutung Rabbiner Formstechers für die jüdische Gemeinschaft liegt in dem Beitrag, den er zur Reformbewegung leistete, wie sie im frühen 19. Jahrhundert in Deutschland entstand, nachdem die Mauern des mittelalterlichen Ghettos gefallen waren. Zwar waren die Juden durch das Ghetto diskriminiert, entrechtet und erniedrigt worden, gleichwohl hatte das Ghetto die jüdische Lebensweise und Überlieferung vor jeglicher Modernisierung bewahrt. Ein Teil der jüdischen Gemeinschaft jedoch erkannte, dass die jahrtausendealten Vorschriften zur Lebensweise und deren geistige Grundlagen mit der seit Reformation und Aufklärung veränderten kulturellen Umwelt der christlichen Gesellschaft Westeuropas in Einklang gebracht werden mussten.

Vorrangig betraf die Reform den Kultus: So folgten die Gottesdienste der Reformer (erstmals 1810 in Seesen abgehalten) dem protestantischen Vorbild, strebten Erbauung und eine erkennbare Ordnung an. Neu eingeführt wurde die Predigt in deutscher Sprache; Hebräisch als Gebetssprache wurde zumindest teilweise ebenfalls durch Deutsch ersetzt. Die Einführung des Chorgesangs, die Streichung der Bitten um Rückkehr nach Zion und Wiedererrichtung des Tempels aus dem Gebetbuch waren weitere Neuerungen. National gestimmt, da sie sich als Deutsche betrachteten, galt den Reformern die Zeit des Exils als beendet, Deutschland als Heimat.

Formstecher gehört, worauf der Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinwies, zu den "Vätern der Reform". Als "aktiver Vorkämpfer der jüdischen Reformbewegung" habe er mehr als fünfzig Jahre in seiner Geburtsstadt Offenbach am Main gewirkt, "auch durch seine theologischen und belletristischen Schriften, die heute weithin vergessen sind" (Schalom Ben-Chorin, "Ein Vorkämpfer der Reformbewegung", Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 6. Februar 1992, Seite 6).

Früh schon, nämlich seit dem Antritt des neuen Vorstands 1821, war die jüdische Gemeinde Offenbach der damals noch jungen und kleinen Reformbewegung zuzurechen. Das fand seinen Ausdruck 1832 - dem Jahr, in dem der Gemeindevorstand Formstecher als Prediger und Religionslehrer engagierte - in einer demokratischen Synagogenordnung, die als beispielhaft gilt. Als ein Vordenker und Praktiker der Reform veröffentlichte Formstecher 1841 sein Hauptwerk, "Die Religion des Geistes - eine wissenschaftliche Darstellung des Judentums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit". Es ist die erste philosophische Schrift der Reformbewegung.

In der Schrift " Die Religion des Geistes" versuchte Formstecher, den Geistbegriff des Philosophen Friedrich Wilhelm Josef von Schelling aufnehmend und abwandelnd, nachzuweisen, dass sich das Judentum zu einer universellen Religion entwickeln könne, dem Ideal des ethischen Monotheismus folgend. Der Münchener Philosoph und Publizist Thomas Meyer, der im Auftrag unserer Gesellschaft Formstechers Schrift "Die Religion des Geistes" einer "neuen Lektüre" unterzogen hat, sieht in dem Rabbiner überdies den "ersten modernen Historiker des Judentums". In Formstechers "Religion des Geistes" liege ein völlig eigenständiger Versuch vor, aus explizit jüdischer Sicht den historisch und intellektuell begründeten Ort der deutschen Juden und ihrer Identität in einer säkularisierten und nichtjüdischen Umwelt in Deutschland anzugeben. Formstecher ziehe mit seinen Überlegungen Konsequenzen, die es einem gläubigen deutschen Juden ermöglichten, die Früchte der "Haskala" (der jüdischen Aufklärung) produktiv aufzunehmen und gleichzeitig Grenzen der Akkulturation zu bestimmen. Auch sei die "Religion des Geistes" ein selbstbewusstes Gesprächsangebot an die beiden christlichen Konfessionen gewesen. (Thomas Meyer, Salomon Formstechers "Religion des Geistes"- Versuch einer Neulektüre, 0ffenbach 2002).
Obgleich Formstechers "Religion des Geistes" seinerzeit trotz wichtiger Rezensionen nur wenig Resonanz fand, verbreitete er seine darin entwickelten Gedanken durch populäre Schriften, Zeitungsartikel und Vorträge, etwa die "Mosaische Religionslehre" (1860) und den Roman "Buchenstein und Cohnberg" (1863).

Der Historiker Michael A. Meyer hat mit der Formel "Deutscher werden, Jude bleiben" die Aufgabe bezeichnet, vor der sich das deutsche Judentum im Ansturm der Moderne seit Mitte des 18. Jahrhunderts gestellt sah. Welche Form das spannungsreiche Unterfangen annahm, ist in vielen Einzelheiten noch nicht genügend erforscht. Nach der Vernichtung des deutschen, des europäischen Judentums durch die terroristische Nazi-Diktatur wurde hierzulande jener Epoche jüdischen Lebens wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Besonders die im 19. Jahrhundert aufstrebende Reformbewegung, die im Philosophen Moses Mendelssohn ihren Ahnherrn hat, stand vielen Juden im Ruf, sich dem Protestantismus angepasst und die deutschen Juden gegen den mörderischen Antisemitismus wehrlos gemacht zu haben. Das Diktum versperrte lange Zeit den Blick auf das historische Geschehen. Die Rekonstruktion dessen, was das Denken, Fühlen und Handeln der deutschen Juden bestimmte, bleibt daher eine der wichtigsten Aufgaben der neueren Geschichtsschreibung hierzulande. Der Blick auf Leben und Werk von Rabbiner Formstecher soll hierzu einen Beitrag leisten.

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