Pressestimmen

28. November 2000
"'Mein Leben' -
Marcel Reich-Ranicki liest aus seiner Autobiographie"

Offenbach-Post, 30. November 2000, Seite 20

Ein Kritiker und seine Beiträge zur Belletristik
Marcel Reich-Ranicki las in der IHK
Von Markus Terharn

Offenbach - Für die Kür des Offenbacher Schriftstellers im Bücherturm habe er keine Zeit, ließ Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki jüngst den Stadtbüchereileiter Ernst Buchholz durch eine Sekretärin wissen. Zur Darlegung der Gründe, weshalb der Großkritiker vergangenes Jahr nicht in die Buchhandlung Gondrom zu locken war, veranschlagt Geschäftsführerin Karin Lademann einen längeren Inlandsflug. Was diesen beiden versagt blieb, das vermochte eine konzertierte Aktion der Offenbacher Buchhändler mit Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft sowie örtlicher Industrie- und Handelskammer. Vorgestern Abend adelte der Primgeiger des literarischen Kult-Quartetts im ZDF die Lederstadt zur (Vor-)Lesestadt.

"An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern" - so begann "MRR" den Vortrag aus seinem Erfolgsbuch "Mein Leben". Seltsam, dass er sich der Kleidung, ja der gesamten Biografie dieser Dame entsann. Dies mochte daran liegen, dass der jüdische junge Mann im Berlin des Jahres 1938 nicht nur ihre Vorliebe fürs Theater teilte, sondern "wohl etwas zu deutlich an ihrem Pullover interessiert" war. Doch schon zeigte sich seine Berufung zum späteren Beruf. "Rührseligkeit" attestierte er Hugo von Hofmannsthals "Der Tor und der Tod", es sei bei aller Liebe "nicht die allerbeste Literatur".

Vorhang auf für die nächste Frau. Sie will Schauspielerin werden, er Germanist und Literaturkritiker, für Juden im Dritten Reich vollkommen illusorisch, "weltfremd". Natürlich ahnte das aufgeweckte Publikum, dass diese Träume in Erfüllung gehen würden, wie Reich-Ranicki denn auch nicht müde wurde zu wiederholen - ein ausgeschlagenes Kürzungsangebot ans Lektorat. Der Preis fürs Überleben: "Wir sind Gezeichnete, und wir werden es bleiben bis zu unseren letzten Tagen."

Dies setzte den Ton für das folgende Kapitel. "Und jetzt aus einer ganz anderen Zeit einige Abschnitte" - die einzige moderierende Zwischenbemerkung, die Reich-Ranicki sich gestattete. Die Erzählungen aus dem Warschauer Ghetto, von wo er, weil als Übersetzer gebraucht, nicht ins Konzentrationslager deportiert wurde, lösten Beklemmung aus. Seine Eltern (Mutter mit 58, Vater mit 62 Jahren "zu alt") hatten keine Chance. Am "Umschlagplatz" verwies sie die Reitpeitsche eines Deutschen auf die Todesseite. "Ich wusste, dass ich sie zum letzten Mal sah."

Und nur einem buchmäßig Bewanderten konnte dies einfallen: Die Tatsache, in jener "Lieblichstraße" gewohnt zu haben, in der sich die Zentrale des Ghetto-Aufstands befand, leitete Reich-Ranicki literaturhistorisch ein - mit einem Gedicht von Wladislaw Broniewski und einem Romantitel von Leon Uris.

Zuletzt aber Erfreulicheres, obwohl dem listigen Schilderer sicher niemand auf den Leim gekrochen ist. Denn jener deutsche Schriftsteller mit dem mächtigen Schnurrbart und dem scheinbar zum Scheitern verurteilten Roman, den er 1958 in Warschau kennen lernte, das war doch, das konnte ja nur - "Blechtrommler" Günter Grass sein. Vergnügt vernahmen die Offenbacher, wie man sich bei einer Tagung der "Gruppe 47" wiedersah, wie Erlebnisse Reich-Ranickis in das "Tagebuch einer Schnecke" eingingen und wie er einen Fisch abnagte, dessen Gräten als Grafik den Grass-Wälzer "Der Butt" zieren sollten. Frühe Beiträge des Kritikers zur gehobenen Belletristik.

Nach gut einer Dreiviertelstunde war Schluss. 500 Zuhörer hatten, so weit sie frontal vor dem Podium saßen, eine gute Akustik genossen und den Meister sogar zweimal gesehen - beim Reinkommen und bei der Entgegennahme des Schlussbeifalls. Fragen waren nicht zugelassen, doch Autogramme (ohne Zusätze) wurden gnädig gewährt. Und als das Schreibgerät des Gewaltigen versagte, konnte der Rezensent mit seinem Kuli aushelfen...

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© Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft e. V.