Pressestimmen

18. Oktober 2001
"Nicht alle waren Mörder"
Michael Degen liest aus seiner Autobiographie

Offenbach-Post, 20. Oktober 2001, Seite 27

Denkmal für Helfer und Dokument des Grauens
"Nicht alle waren Mörder" - Michael Degen beeindruckte
Von Markus Terharn

Offenbach - Michael Degen dürfte gern sein ganzes Buch vorlesen. Tut er ja - seine Kindheitserinnerungen "Nicht alle waren Mörder" gibt es nicht nur seit 1999 gebunden und seit kurzem als Taschenbuch, sondern auch schon als Hörcassette. Auszugsweise stellte der bekannte Schauspieler sein Werk jetzt in der Industrie- und Handelskammer vor. Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft, IHK und Offenbacher Buchhändler hatten eingeladen, mehr als 400 kamen.

12.000 Juden überlebten im Dritten Reich, versteckt, illegal, in ständiger Todesangst. Was zwei von ihnen durchgemacht haben, erzählte Degen am Beispiel seiner selbst und seiner Mutter. Stockend, es fiel ihm sichtlich schwer, begann er mit der Abholung seines Vaters ins KZ im September 1939, die der Siebenjährige mitbekam. Fing sich und raffte die 330 Seiten über sechs endlos scheinende Jahre zu einer guten Stunde - mitreißend, bewegend, nachdenklich stimmend und, ja, äußerst kurzweilig.

"Eine Kindheit in Berlin", so der Untertitel, stellten sich die meisten Zuhörer sicher anders vor. Degen vollbrachte das Kunststück, sie so zu schildern, wie er sie empfunden hatte, als Abenteuer. Und doch seine spätere Kenntnis der Gefahr einfließen zu lassen, der er sich damals nicht bewusst war, wie er zugab.

Dramatisches, Unvergessliches war darunter; so die erste Lebensrettung. Jene Szene, in der ein kleines Mädchen angeschossen wurde; kaum auszuhalten. Denkmäler wurden errichtet, für Menschen, die den Verfolgten halfen. Und in all dem Grauen kam der Humor nicht zu kurz. Nur das Allerschlimmste, wie den Bericht vom Tod seines Vaters, sparte der Vortragende aus. Der Autor nicht.

Degen las ruhig und präzise, die zahlreichen Mikrofonausfälle mit geschulter Stimme souverän meisternd, aber nie der Versuchung nachgebend, den Mimen hervorzukehren. Nur am Ende, bei der atemberaubenden Beschreibung der "Befreiung" bei Kriegsende 1945 durch einen bedrohlich wirkenden Russen, wurde er lauter, sprach schneller, wirkte erregter. Der Moment, als der Junge angesichts der Lebensgefahr für sich und seine Mutter über sich hinauswuchs und mit 13 Jahren erwachsen wurde, war ein Höhepunkt, in der sprachlichen Beschreibung wie in der Darstellung. Und der gewiefte Bühnendarsteller brach ab, als es am spannendsten war, ließ den letzten Satz in der Luft hängen und lange nachklingen, hielt den Fortgang in der Schwebe.

Das anschließende Gespräch mit dem TV-Journalisten Jochanan Shelliem vertiefte den gewonnenen Eindruck. Warum er 54 Jahre lang geschwiegen habe, um sich die Last in dreieinhalb Monaten von der Seele zu schreiben? "Ich habe das verdrängt", räumte Degen ein. Ein Auftritt in einer Fernsehsendung und hartnäckiges Interesse zweier Verlage hätten das Umdenken bewirkt; ein schmerzhafter Prozess sei das gewesen: "Zum ersten Mal habe ich meine Mutter verstanden. Und es war fast so, dass ich es nicht nacherzählte, sondern es noch einmal erlebte - in anderer Form."

In seiner Arbeit hatte sich Degen indes schon mit der Vergangenheit auseinandergesetzt. Jüdische Regisseure wie George Tabori (in seinem KZ-Stück "Die Kannibalen") und Peter Zadek (in Joshua Sobols Musical "Ghetto") hatten ihn an die Grenze dessen getrieben, was er ertragen konnte. Auch darüber sprach der 69-Jährige freimütig. Die Offenbacher konnten, die Deutschen sollten froh sein, dass er die Kraft dazu fand. Und - auf Bernd Eichingers geplante Verfilmung warten!

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© Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft e. V.