Pressestimmen

25. April 2002
Zeitzeugengespräch mit Richard W. Sonnenfeldt,
Chefdolmetscher der US-Anklage
beim Nürnberger Prozeß 1945/46

Offenbach-Post, 26. April 2002, Seite 18

"Wie könnte ich euch hassen? Ihr wart damals noch nicht da!"
Richard W. Sonnenfeldt erzählte Schülern von großer Schuld, die nicht vergeht

Offenbach (mt) - Wie haben sich hochrangige NS-Verbrecher herausgeredet, die sich nicht auf Befehlsnotstand berufen konnten? Etwa so, wie es Richard W. Sonnenfeldt am Beispiel Hermann Görings ausführte: "Kennen Sie diesen Befehl?" "Ich weiß nicht, was alles durch mein Büro gegangen ist." "Aber das ist doch Ihre Unterschrift?" "Kann ich mit dieser Brille nicht erkennen." Als er ein Vergrößerungsglas bekommt: "Sieht so aus, könnte aber gefälscht sein." Und als ein Experte die Echtheit bestätigt: "Ach, es war Krieg - und die anderen haben auch schlimme Dinge gemacht..."

Sonnenfeldt weiß, was er sagt. Der heute fast 80-Jährige war dabei, als die Alliierten 21 mutmaßlichen Hauptschuldigen 1945/46 in Nürnberg den Prozess machten. Als Hauptdolmetscher der Anklage wirkte er im Dienst der Gerechtigkeit - als Zeitzeuge sprach er gestern in der Albert-Schweitzer-Schule. Eingeladen von der Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft, historisch glänzend eingeführt von Stadtarchivar Hans-Georg Ruppel, erlebten Gymnasiasten von ASS, Leibniz- und Rudolf-Koch-Schule eine echte Sternstunde - Geschichtsunterricht aus erster Hand. Geboren 1923 in Berlin, geflohen 1938 vor der Judenverfolgung, zurückgekehrt 1945 als US-Soldat, hat Sonnenfeldt sein Englisch gut gelernt, sein Deutsch nicht verlernt. Das führte ihn als einen der ersten Befreier ins KZ Dachau. Die "lebenden und toten Leichen, den Gestank" hat er nie vergessen. So tat er seine Pflicht, als es galt, die Verantwortlichen zu befragen.

Zu den Grundsätzen des Tribunals steht Sonnenfeldt. "Die Richter sollten total neutral sein. Die Angeklagten hatten deutsche Anwälte und das Recht zu schweigen, von dem jedoch keiner Gebrauch machte. Es gab deutsche Zeugen; niemand sollte wegen der Aussage eines Feindes verurteilt werden. Allen Beteiligten wurde eingeschärft, absolut ehrlich zu sein. Der amerikanische Chefankläger meinte: Wenn wir sie zwingen, aus einem vergifteten Becher zu trinken, wird dieser zu uns zurückkehren."

Durchaus differenzierte Bilder zeichnete Sonnenfeldt von den Angeklagten, ohne ihre Taten zu verharmlosen. Mit Reichsmarschall Göring habe er sich sogar gut verstanden. "Er kannte keine Furcht, hatte einen gewissen Charme, machte Witze." Anders Julius Streicher, der wie sein Hetzblatt, der "Stürmer", gewesen sei - "dumm, antisemitisch, pornografisch, einfach ekelhaft". Rüstungsminister Albert Speer wollte sich "um nichts gekümmert" haben. Wilhelm Keitel, ganz Soldat, habe "nur gehorcht". Hans Frank, Gouverneur im besetzten Polen, sei zum Katholizismus zurückgekehrt. Baldur von Schirach, Gauleiter in Wien, habe ausdrücklich von "Grausamkeiten" gesprochen. Und Außenminister Joachim Ribbentrop habe nur pausenlos Schachtelsätze fabriziert, kein Ja und kein Nein. "Der hat noch mit dem Strick um den Hals geredet!"

Ein Kapitel für sich widmete Sonnenfeldt dem berüchtigten Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. "Der legte Wert darauf, nicht dreieinhalb, sondern zweieinhalb Millionen Menschen in den Tod geschickt zu haben. Und ein Dieb sei er nicht. Könnt ihr euch das vorstellen?"

Seine Rolle stellte Sonnenfeldt bescheiden dar: "Meine Aufgabe war, durchsichtig zu sein." Seine gestrige Aufgabe, Wissen weiterzugeben, damit es nicht verlorengeht, meisterte er, stellte sich kritischen Fragen gut vorbereiteter Pennäler. Nicht zuletzt die Erinnerung an seinen ersten Schultag - mit Rohrstock - machte den Zeitgeist deutlich, in dem später schwerste Untaten möglich waren. Aber Hass auf die Deutschen? "Wie könnte ich euch hassen? Ihr wart noch nicht da!"

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© Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft e. V.