Mally Dienemann
Aufzeichnungen 1933-1939


Lesung mit Ilona Berdux-Wiedem
zum 75. Jahrestag des
Novemberpogroms von 1938

12. November 2013, 19.30 Uhr
Dr. Max Dienemann-Saal, Alte Synagoge Offenbach (Capitol Theater), Goethestraße 1-5, 63067 Offenbach

Begrüßungsrede von Anton Jakob Weinberger, Vorsitzender der Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft Offenbach e.V.

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Namen der Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft begrüße ich Sie herzlich zu unserer heutigen Veranstaltung.

Es ist für uns eine Ehre, an diesem Ort, im Gemeindesaal der früheren Offenbacher Synagoge, Mitglieder der Familie Dienemann begrüßen zu können. Mit dem Namen von Rabbiner Dr. Max Dienemann ist dieses Haus aufs Innigste verbunden. Vom Amtsantritt im Dezember 1919 bis zu der von den Nationalsozialisten erzwungenen Emigration im Dezember 1938 war diese Synagoge Wirkungsstätte von Rabbiner Dienemann, einem der führenden liberalen, gleichwohl in der Tradition wurzelnden deutschen Rabbiner, der zudem international Anerkennung genoss.

Familienzusammenführung im Kleinen
Wir freuen uns, dass Ilan Schindler, Enkel von Rabbiner Max Dienemann und seiner Frau Mally, gemeinsam mit seiner Frau Sue der Einladung unserer Gesellschaft gefolgt und von London hierher gekommen ist. In England leben auch Michele Saffer, Urenkelin von Max und Mally Dienemann, und die Ururenkelin Jessica Saffer. Wir danken beiden ebenso herzlich für ihr Kommen. Aus Zürich ist Prof. Dr. Simon Lauer nach Offenbach gereist, Großneffe von Rabbiner Dienemann und in rabbinischen Fragen überaus kundig. Anders gesagt: Rabbiner Dienemann war ein Vetter der Mutter von Prof. Dr. Lauer.

Wozu wir als Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft zum Gedenken an die Opfer des im November vor 75 Jahren verübten Pogroms an den deutschen Juden eingeladen haben, ist mithin eine Familienzusammenführung im Kleinen, und zwar an einem Ort, der nicht nur für die Familie Dienemann historisch bedeutsam ist.

Dass in Offenbach gestern Nachmittag (11. November) Prof. Lauer zum ersten Mal seinen Londoner Verwandten, von deren Existenz er bis vor kurzem nichts ahnte, begegnet ist, ist ein Zeichen: Die Katastrophe, hebräisch Schoa genannt, vermag die Erinnerung nicht zu tilgen. Das gilt über Generationen hinweg. In der jüdischen Gemeinschaft ist die Metapher "Di goldene Kejt", die "Goldene Kette" geläufig, eine Kette, die die Generationen verbindet. In dieser Kette sind Vergangenheit und Gegenwart eingeschmolzen, wird Vergangenheit gegenwärtig. Mit der heutigen Veranstaltung sind wir bestrebt, unseren Teil dazu beizutragen, diese "Goldene Kette" fortzuknüpfen.

Dem Gedenken an die Opfer des Hitlerschen Totalitarismus sollten wir Namen und Gesicht verleihen, auch und gerade aus Anlass des Novemberpogroms von 1938. Dass Ilan Schindler 1938 in Tel-Aviv geboren wurde, lässt aufmerken. Denn zu Beginn der dreißiger Jahre wanderte seine Mutter Paula, die zweite Tochter der Dienemanns, nach Palästina aus. Da hatte sich die Existenz von Juden in Deutschland schon verdunkelt. Wenig später zog Dora, die älteste Tochter, mit ihrem Mann Arthur Wagner in die Vereinigten Staaten. Die jüngste der drei Töchter, Gaby, im September 1919 in Ratibor geboren und im Alter von neun Wochen mit ihren Eltern nach Offenbach gekommen, emigrierte 1937 nach England.

Doppelte Identität – Jude und Deutscher
Hitlers Schergen trieben eine Familie auseinander, die ihre Existenz im jüdischen Bewusstsein wie in der deutschen Kultur gefunden hatte und deren "Lebensmittelpunkt", wie man heute sagt, Deutschland war.

Die Aufzeichnungen von Mally Dinah Dienemann legen hiervon Zeugnis ab. Das Selbstverständnis, in zwiefacher Identität – als Jude und Deutscher – leben zu können, war keine Selbsttäuschung, wie in diesen Tagen mancher Gedenkredner behauptet. Dieses Selbstverständnis prägte seinerzeit den Alltag der meisten der mehr als 600 000 deutschen Juden hierzulande. Das hat mit der Frage, ob ein Jude die Schabbatruhe einhielt und einen koscheren Haushalt führte, kaum etwas zu tun. Ebenso wenig musste ein deutscher Jude Goethe oder Schiller verehren. Es genügte, Deutschland als Heimat zu fühlen.

Das Tor hierzu hatte in den 1780er Jahren der Aufklärer und Philosoph Moses Mendelssohn, ein Freund Lessings, geöffnet, indem er die Tora ins Deutsche übersetzte. Obschon Mendelssohns Übersetzung in hebräischen Lettern gedruckt wurde, handelt es sich um die Gründungsurkunde des deutschen Judentums.

Diese Anverwandlung aufzulösen, war das Ansinnen nicht nur der Nazis. Bis zuletzt gegen die Aufkündigung dieser jahrhundertealten Vereinigung geistig Widerstand geleistet zu haben, ist ein unleugbarer Verdienst der deutschen Juden. Auch davon zeugen die Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen von Mally Dinah Dienemann.

Die inmitten des Ersten Weltkriegs am 16. April 1916 eingeweihte Offenbacher Synagoge in der Goethestraße zeugt von der Gewissheit der Juden, nicht mehr fremd, sondern unzweifelhaft Teil der deutschen Gesellschaft zu sein.

Doch nur wenige Monate nach der Einweihung des monumentalen Kuppelbaus der Offenbacher Synagoge, im November 1916, kam es zur sogenannten Judenzählung im Deutschen Heer. Dass 12 000 Juden für das deutsche Vaterland im Ersten Weltkrieg starben, vermochte gegen das Feindbild des "feigen Juden", der sein Vaterland verrät, nichts auszurichten. Weder der "Judenboykott" am 1. April 1933 noch die Nürnberger Rassegesetze 1935 sind der Beginn der "Aussonderung" der Juden hierzulande: Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums begann im Wilhelminischen Kaiserreich. Unter der Hitler-Diktatur wurde zunächst die "Aussonderung" der Juden, später deren fabrikmäßige Vernichtung zur Staatsraison.

Was geschah, bevor diese Vernichtungsmaschinerie ihr Werk begann, davon berichtet Mally Dinah Dienemann, die Frau von Dr. Rabbiner Max Dienemann, in ihren Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen. Man könnte zum Schluss gelangen, Mally Dinah Dienemann sei nur die "Rebetzin", die Frau des Rabbiners gewesen. Das wäre ein Trugschluss. Mally Dinah Dienemann war eine Persönlichkeit aus eigenem Vermögen, gebildet, kultiviert, in hohem Maße selbstkritisch und nachdenklich. Ihre Aufzeichnungen und Tagebuchblätter, aus denen wir Ihnen heute Abend Auszüge darbieten, ist ein teils nüchterner, teils gefühlvoller Bericht. Doch gegen das Gefühlvolle hat sie sich, wie ihre Anmerkungen belegen, immer wieder zu wehren versucht. Ihr Ideal eines Autors war Rainer Maria Rilke, der in seiner Prosa sachlich und genau zu sein vermochte.

Zumal die Tagebucheintragungen von Mally Dinah Dienemann verweisen auf die Gedankenwelt, in der sich deutsche Juden, die dem gehobenen Bürgertum zugehörten, einst bewegten. Welche Mutter liest mitten im Hitler-Wahnsinn mit ihrer Tochter Goethes "Iphigenie"? Welche Mutter sucht ihre verängstigte Tochter vor dem Einschlafen durch das Vorlesen von Thomas Manns Erzählung "Herr und Hund – Ein Idyll" zu trösten, während draußen die Gestapo lauert? Mally Dinah Dienemann tat es. Ihre Tochter hat es uns vor einigen Jahren bestätigt und ihren Dank für diese literarische Bildung bekundet.

Synagogenschändung in Offenbach
Meine Damen und Herren, wir sind zu einem besonderen historischen Datum an einem besonderen historischen Ort zusammengekommen. Zum 75.Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 gedenken wir der unzähligen Opfer, die in den Tagen und Nächten um den 9. November auf staatliches Geheiß hin inhaftiert, gefoltert, deportiert oder in den Selbstmord getrieben wurden. Wir gedenken auch der mehr als tausend Synagogen und Betstuben, die in jenen Tagen entweiht und zerstört wurden. Auch diese Synagoge stand in Flammen. Das Feuer wurde rasch gelöscht. Doch nicht so sehr, weil ringsum Wohnhäuser standen, wie mancher Redner dieser Tage behauptet.

Wenn wir heute zurückblicken und uns zu erinnern suchen, sollten wir uns auch daran erinnern, dass die NSDAP in Offenbach schon Ende der 1920er Jahre nachweislich ihren Blick auf die Synagoge geworfen hatte und das Gebäude für sich reklamierte. Es gibt Gründe anzunehmen, dass das in der Synagoge gelegte Feuer am Morgen des November 1938 ebenso wie dessen Löschung von den Nazis inszeniert worden sind. Infolge des staatlich angewiesenen Pogroms wurden in Offenbach mehr als 80 Mitglieder der Israelitischen Gemeinde verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, darunter der Gemeindevorsitzende Dr. Siegfried Guggenheim und Rabbiner Dienemann. Es war für den Rabbiner die zweite Inhaftierung in einem Konzentrationslager. Schon im Dezember 1933 wurde Rabbiner Dienemann nach einem Vortrag in diesem Raum verhaftet und ins KZ Osthofen gebracht, dem ersten dieser Lager in Hessen.

Gleichwohl: Die Mauern bargen eine der bedeutendsten Synagogen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland errichtet wurden. Die monumentale Offenbacher Kuppelsynagoge, dem griechisch-römischen Stil zugewandt, steht in einer Reihe mit den seinerzeit errichteten Synagogen in Frankfurt, Essen, Augsburg und Mainz.

Mit dem musikalischen Programm, das Sie hören werden und das die Pianistin Cordula Hacke gemeinsam mit ihrem Partner, dem Flötisten Sebastian Wittiber, darbietet, wollen wir ein musikalisches Zeitbild zeichnen, das die Lebensspanne von Mally Dienemann umfasst: spätromantisch und modern.

Für die Unterstützung dieser Lesung danken wir der GBO Gemeinnützige Baugesellschaft Offenbach, dem Pianohaus Guckel, Offenbach, der Kanzlei Heim / Honermeier, Wirtschaftsprüfer / Steuerberater, Frankfurt am Main, und privaten Spendern.

Ich bitte den ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Offenbach, Herrn Jacob Kerem-Weinberger, um sein Grußwort
und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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© Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft e. V.